Seuchenkolumne. Nachrichten aus der vervirten Welt 276
Armin Thurnher
„Komm zu mir nun, und befreie mich vom schweren
Kummer, und was, dass es mir zuteil werde,
mein Gemüt begehrt, erfülle es und du selbst
sei mir Verbündete.“
So singt Sappho an Aphrodite, Sappho aus Lesbos, die erste Dichterin des Altertums, das Staunen der Welt, auf Fragmenten überliefert, in Scherben geritzt, zum Teil für immer verloren und doch ewig glänzend.
Sappho, der Glanz des Lieds, der Erotik, der Liebe, der Sehnsucht.
Sappho glänzt. Wie das ewige Griechenland glänzt, Aufgang Europas, Wiege der Demokratie und der Zivilisation, immer beschworen in Festreden, untilgbar eingeschrieben in die Werke der Dichter, der Denker, in die Schönheitsideale von Kunst und Drama und Musik.
Wer, der mit dieser Welt in Berührung gekommen wäre, hätte nicht die Philosophen und Mathematiker bewundert, die Totenrede des Perikles, die Gesänge des Homers, die Tragödien der Aischylos, Sophokles und Euripides, den fragwürdigen Mut der Antigone, die hoffnungslose Tragik des Ödipus, den brutalen Triumph des heimkehrenden Odysseus. Aber auch.
Das ewige Blau des Himmels, das Schimmern der Tempel im Licht südlicher Sterne, Erfindergeist und Wissenschaft – sie inspirieren die Besten bis heute, Hölderlin und Freud, Shakespeare und Jean-Marie Straub, Hofmannsthal und Stanley Kubrick, Hannah Arendt und Iannis Xenakis. Psappha: wen, der es hörte, hätte dieser Trommeltribut an Sappho nicht in den Bann geschlagen?
Griechisches Denken, griechische Kultur haben Revolutionen getragen und Kulturen gestiftet.
Was haben wir aus dem ewigen Griechenland gemacht? Was ist uns Lesbos geworden, der Ort des Gesangs und der schönen Liebe?
Ein Schlammloch, ein Schreckensort, wo Kinder zur Abschreckung Ratten ausgesetzt werden. Wo sie auf unbewaffnete Flüchtlinge in Schlauchbooten schießen. Wo sie Menschen terrorisieren, jahrelang ohne Hoffnung festhalten, in Nässe und Kälte frieren lassen.
Wer hat das gemacht?
Jene christlich-europäischen Humanisten, die in Feiertagsreden die Demokratie des alten Griechenland beschwören, die Philosophen deren Hohelied singen lassen, denen kein Phrase zu billig und keine mediale Gelegenheit zu schäbig ist, ihr Licht auf den Scheffel zu stellen.
Jene christlich-europäischen Humanistinnen, die wegen ihres konfessionellen Fests Weihnachten, in dem sie die Herbergssuche feiern, ohne weiteres hunderte Corona-Tote mehr riskieren, um ein paar Umsätze zu sichern, und weil sie zu feig sind, den Leuten die Wahrheit zu sagen.
Jene christlich-europäischen Humanisten, die zum gleichen Fest Weihnachten auf die Apelle ihrer Bischöfe scheißen und sich an der slicken Härte ihres vollkommen empathiefreien und hilflosen Kanzlers erbauen.
Jene christlich-europäischen Humanistinnen, die weitaufgerissenes Auges, unter trainiertem Gefuchtel und einexerzierter guter Laune ihre schamlosen Phrasen absondern: „Wir setzen stark auf humanitäre Hilfe“, und „Es lässt uns alle nicht kalt, wenn wir diese Bilder sehen.“
Ja, die haben das gemacht. Es lässt sie eiskalt, wenn sie diese Bilder sehen. Und sie wissen, woraus ihre humanitäre Hilfe besteht: aus schwindligen Alibihilfsaktionen, die nie ankommen und nicht funktionieren. Stattdessen behindern sie die Arbeit von NGOs, die sich bemühen, das Elend zu mindern, und Kinder gegen Tetanus impfen wie in der letzten Bananenrepublik, wo gierige, grausame Diktatoren die Bevölkerung verkommen lassen.
Was haben sie aus dem Erbe Europas gemacht, diese christlich-europäischen Humanisten? Sie haben es verraten.
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Die griechische Regierung zuerst, die europäische Union, die nicht eingreift, und eine österreichische Regierung, die sich auf die Seite der Verräter europäischer, demokratischer, griechischer Ideale schlägt.
Es ist aber völlig egal, ob es die griechische Regierung ist, der österreichischen in brüderlich-konservativ-wirtschaftsfreundlichem Geist verbunden, die europäische Union oder die österreichischen Konservativen, Budapest und Warschau näher als München oder gar Berlin.
Sie alle fügen sich einer europäischen Nicht-Strategie, die in Wahrheit eine Niedertracht ist und auf den schlichten, in ihrem streberischen Polit-Denglisch formulierten Gedanken hinausläuft: nur kein pull-effect!
Doch der pull-effect ist längst eingetreten: die österreichische Regierung hat sich selbst in den Schlamm der Inhumanität hinuntergezogen. Nicht ein einziges Flüchtlingskind werden wir aufnehmen. Nicht ein Wort gegen die inhumanen Verhältnisse werden wir äußern. Nicht einen Hauch von Kritik an der Praxis unserer griechischen Gesinnungsfreunde werden wir vorbringen. Mit dem Schlamm unserer fertig angerührten Phrasen schmieren wir alle Medien zu, und den Schlamm, durch wir euch ziehen, stopfen wir euch noch ins Maul.
Diese Leute mögen uns nie mehr mit Humanismus, griechischer Art, athenischer Agora, Philosophiestudium oder anderen klassischen Schmähs kommen. Selbstbesessene und selbstvergessene Figuren, die alle Prinzipien, für die Demokratie stehen sollte, dem Erhalt ihrer demokratischen Macht opfern.
Im Schlamm von Lesbos versinkt nicht nur Europas Selbstachtung, es versinkt auch, wofür es Demokratie überhaupt braucht: Menschenrecht und Menschenwürde.
Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als der Mensch.
(…)
Der Toten künftigen Ort nur
Zu fliehen weiß er nicht,
Und die Flucht unbeholfener Seuchen
Zu überdenken.
(Sophokles, Antigone)
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Bewundern wir jene Leute, die auf Lesbos und hier für die Würde des Menschen kämpfen, und unterstützen wir die Forderung, das Schlammlager Kara Tepe zu evakuieren: NGOs wie Ärzte ohne Grenzen, die Caritas, die Diakonie, die Initiative „Courage“, Bischöfe wie Hermann Glettler und Michael Chalupka. Und Leute wie Doro Blancke, Katharina Stemberger, Steffi Krisper, Nicola Werdenigg, um nur einige zu nennen.
Spenden an Doro Blancke:
AT93 3842 0000 0002 7516
Betreff: Lesbos
Weiterhin: keep distance, wash hands, wear masks, stay human!
Ihr Armin Thurnher
Der Blog von Armin Thurnher, Herausgeber des FALTER.